Vor 2 Wochen
Dienstag, 2. Oktober
10:00 Uhr – Köln
STELLA
„Was liest du denn da?”, fragte Ida mich. Weil sie aber gerade einen Riesenbissen eines Schokoladenmuffins im Mund hatte, klang es eher nach: „Wafflieftnd?”
Nach über zwei Jahren, die ich mit Ida zusammenwohnte, verstand ich sie einwandfrei. Insgeheim nannte ich es Idisch, wenn sie so sprach. Und ich war fest davon überzeugt, dass ihre Eltern mit dem Grundsatz „Man spricht nicht mit vollem Mund” keinen Erfolg gehabt hatten. Ich glaube, das machten alle in Idas Familie so. Vor meinem inneren Auge tauchte eine Großfamilie auf – Ida mittendrin – die sich, während der Mahlzeiten, in fließendem Idisch unterhielten.
„Jetzt sag schon. Was ist das?” Ida hatte den Bissen heruntergeschluckt und sprach nun wieder so, dass es jeder Normalsterbliche verstehen konnte.
„Ein Brief”, sagte ich, während ich ebenjenen noch einmal las, um zu begreifen, was da stand.
„Das habe ich mir schon fast gedacht. Was für ein Brief denn?” Auf Zehenspitzen tänzelte Ida hinter meinem Rücken hin und her bei dem Versuch, mir über die Schulter zu schauen. Ihr Unterfangen war natürlich zwecklos: Ich war einen ganzen Kopf größer als sie.
„Eine Einladung zur Testamentsvollstreckung”, fasste ich den Inhalt zusammen.
„Was? Wer ist denn gestorben?”, fragte Ida.
„Meine Großtante Gerda.”
Ida riss die Augen auf, kaute fast fertig und sagte dann: „Das ist ja traurig.”
Ich wiegte unschlüssig meinen Kopf hin und her, was Ida zu der Aussage brachte: „Ist es nicht?”
„Ja und nein. Ich meine: Natürlich ist es traurig, dass meine Großtante gestorben ist. Aber ehrlich? Ich kannte sie kaum. Das letzte Mal hab ich sie als Kind gesehen.”
Ida steckte sich den restlichen Bissen Muffin in den Mund und wiegte nun auch den Kopf hin und her. Ganz entgegen ihrer sonstigen Angewohnheit, kaute sie tatsächlich fertig, bevor sie sagte: „Okay. Ich fasse zusammen: Allgemein gesprochen ist es traurig, weil es einfach immer traurig ist, wenn jemand gestorben ist. Aber in Wirklichkeit ist es gar nicht so traurig, weil du dich kaum noch an sie erinnern kannst und sie quasi eine Fremde für dich war. Richtig?”
Ich nickte.
„Gut, in dem Fall würde ich sagen …” Sie brach ab und begann aufgeregt auf und ab zu hopsen. „Yay!”, rief sie.
„Yay?”, fragte ich perplex.
„Yay! Eine geheimnisvolle Erbschaft! Das ist fast wie in einem Die drei ???-Hörspiel.” Sie strahlte mich an.
Dazu muss man wissen, dass Ida der größte Die drei ???-Fan war, den ich kannte. Also nicht körperlich groß, sondern groß groß. Ihr wisst schon.
„Deine Großtante hat nicht zufällig ein altes Schloss besessen? Oder eine Sammlung teurer Gemälde? Oder …”
„Da muss ich dich enttäuschen”, fiel ich ihr ins Wort. „Meine Großtante ist nicht … Ich meine, sie war nicht reich.”
Ida stellte das Hopsen ein und sah mich wieder mit großen traurigen Augen an. „Nicht?”
„Nein. Sie hatte mit meinem Großonkel einen kleinen Bauernhof. Jottweedee.” Ich seufzte.
„Jottwee… was?” Ida sah mich verständnislos an.
„Janz weit draußen, das ist Platt für …”
„Am Arsch der Welt.”